mardi 31 mars 2015

Tröglitzer Ex-Bürgermeister Nierth: "Die Menschen haben sich auf der Straße angeschrien"


Neonazis wollten vor seinem Privathaus demonstrieren - deshalb trat vor drei Wochen im sachsen-anhaltinischen Tröglitz der ehrenamtlich tätige, parteilose Bürgermeister Markus Nierth zurück. Nierth hatte sich für die Aufnahme von Flüchtlingen eingesetzt, obwohl er ahnte, dass es Probleme geben würde.


An diesem Dienstag will sich in Tröglitz erstmals der zuständige Landrat den Fragen der Bürger zu der für Mai geplanten Aufnahme der rund 40 Flüchtlingen stellen. Hunderte Teilnehmer werden erwartet. Wie ist die Situation in der Gemeinde heute? Und wie hat sich sein Leben in den vergangenen Wochen verändert? Darüber spricht Ex-Bürgermeister und Theologe Nierth im Interview.

SPIEGEL ONLINE: Herr Nierth, die NPD hetzte gegen Sie, weil Sie sich als Bürgermeister für die Aufnahme von Asylbewerbern in Tröglitz eingesetzt haben. An diesem Dienstagabend informiert der Landrat vor Ort über die Pläne. Werden Sie hingehen?


Nierth: Ja. Tröglitz liegt mir weiter am Herzen. Aber dieser Informationsabend kommt um einiges zu spät: Es hätte längst eine solche Fragerunde für die Bürger geben müssen. Die Menschen dürfen nicht das Gefühl bekommen, man verheimlicht ihnen etwas. Trotzdem habe ich noch Hoffnung: Mehrere wichtige Leute aus Tröglitz haben eine Erklärung verfasst, die sich zu einem menschenfreundlichen Umgang mit Flüchtlingen bekennt. Dieser Appell soll wahrscheinlich heute Abend verlesen werden.


SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass das etwas ändert?


Nierth: Ich hoffe auf die Mehrheit der Tröglitzer. Die breite Menge war bislang ruhig, auch wenn sie vielleicht Ängste hat. Ich hoffe, dass viele ihre Herzen öffnen und die Flüchtlinge freundlich aufnehmen.


SPIEGEL ONLINE: Sie sind vor drei Wochen zurückgetreten, weil die NPD eine Demonstration vor ihrem Privathaus abhalten wollte. Wie ist die Situation in Tröglitz heute?


Nierth: Es gab eine regelrechte Explosion im Ort, nachdem die Tröglitzer durch den Medienandrang nach meinem Rücktritt in eine Art Schockstarre gefallen waren. Manche Menschen haben sich auf der Straße sogar angeschrien. Es geht ein richtiger Riss durch den Ort, manche befürchten auch, dass die NPD salonfähig wird.


SPIEGEL ONLINE: Ist sie das nicht längst? Mehrere Tröglitzer haben sich den Extremisten bei ihren Demonstrationen angeschlossen.


Nierth: Jedenfalls sind die Rechtsradikalen längst nicht mehr an ihren Springerstiefeln und Glatzen erkennbar, sondern verstecken sich unscheinbar unter den "ganz normalen Wutbürgern". Das Fatale daran: Manche Leute im Ort fühlen sich dem "guten Bekannten aus der NPD" näher als "den Politikern da oben".


SPIEGEL ONLINE: Warum?


Nierth: Die Politiker sprechen nicht die Sprache der normalen Menschen, sie legen ihre Karten nicht offen auf den Tisch, ihre Entscheidungen scheinen intransparent.


SPIEGEL ONLINE: Wie meinen Sie das?


Nierth: Es wird zu spät informiert, auch hier im Ort. Man hätte von Anfang an auf die Menschen zugehen müssen, bevor alles beschlossen ist. Man hätte alles erklären und auch offen über Neonazis sprechen müssen, die das Thema Flüchtlinge ausnutzen würden. Auch die Politik in Berlin agiert oft zu ängstlich, viel zu spät. Ein Beispiel sind die vielen Flüchtlinge aus dem Kosovo, die in den letzten Monaten gekommen sind. Solche Themen überlässt man populistischen Gruppierungen.


SPIEGEL ONLINE: 40 Flüchtlinge sollen im Mai in Tröglitz untergebracht werden, der Ort hat rund 2700 Einwohner. Verstehen Sie die Ängste?


Nierth: Rational ist das nicht zu verstehen. Und trotzdem dürfen diese Sorgen nicht so abgetan werden, denn dann wird es noch leichter für Neonazis, die Mehrheit aufzuputschen gegen Flüchtlinge.


SPIEGEL ONLINE: Warum ist die Stimmung so gekippt in Tröglitz?


Nierth: Es gibt hier Rassisten wie überall, aber ich glaube nicht mehr als anderswo. Allerdings haben sich hier einige getraut ihren Hass offen auszudrücken, das sind vor allem Leute aus einer bestimmten sozialen Schicht, die sich als Verlierer fühlen. Ein Problem ist sicher: Es gibt hier kaum eine gewachsene Sozialstruktur. Das macht es Rechtsextremen leichter, weil das Gefühl von Geborgenheit bei vielen fehlt. Aber eines ist mir wichtig: Es sind nur ein Prozent der Tröglitzer bei der NPD mitmarschiert, viele Neonazis kamen von außen.


SPIEGEL ONLINE: Ist Ihr Rücktritt nicht ein Einknicken vor den Rechtsradikalen gewesen?


Nierth: Mir ist inzwischen egal, wenn es jemand so sieht. Mir geht es um meine Familie, die für mich über allem steht. Ich wollte nicht, dass Hassparolen und hassverzerrte Gesichter von Neonazis ihre Herzen kaputt machen. Außerdem wollte ich ein Zeichen setzen: Es war feige, dass die Demonstration vor meinem Haus nicht verhindert wurde. Hier haben die Versammlungsbehörden versagt. Da hätte man klare Haltung zeigen müssen.


SPIEGEL ONLINE: Wie hat sich ihr Leben seitdem verändert?


Nierth: Wir leben ein ganz normales Leben, werden aber beraten vom Staatsschutz und dem LKA. Diese Leute raten uns übrigens auch, weiter gegen Fremdenhass zu kämpfen. Im Übrigen: Wir nehmen die Bedrohungen und Pöbeleien, die immer noch per Mail kommen, auch nicht mehr besonders ernst - das wäre ein Sieg für die Neonazis. Deren Strategie es ja ist, Angst zu säen. Ich will mich nicht zum Helden stilisieren lassen, es gibt Menschen, die viel mutiger sind als ich und viel mehr von Rechtsradikalen bedroht werden.

SPIEGEL ONLINE: Freuen Sie sich auf die Flüchtlinge?


Nierth: Inzwischen ja. Jedenfalls planen wir ein Begegnungscafé. Dort sollen sich die Flüchtlinge und die ganz normalen Tröglitzer kennenlernen und zusammen Tee trinken.






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