samedi 28 février 2015

Trauer um Nemzow: "Er war der letzte Politiker, der die Wahrheit aussprach"


Auf dem Roten Platz schießen Touristen Selfies vor dem Lenin-Mausoleum, vom Wintermarkt dringt russische Volksmusik zur roten Kremlmauer, Schlittschuhe rauschen auf der Eisbahn - ein normaler Samstag in Moskaus Innenstadt. Wären da in der Menge nicht immer wieder Menschen mit Blumensträußen in der Hand zu sehen. Sie eilen an den Touristen vorbei zur Brücke über die Moskwa, ein paar hundert Meter vom Machtzentrum Wladimir Putins entfernt.


Dort wurde in der Nacht der Kremlkritiker Boris Nemzow erschossen. Etwa hundert Trauernde versammelten sich hier, die Menschen kämpfen sich durch die Menge zum Ort der Todesschüsse. Rote Nelken säumen das Brückengeländer. Einige Trauernde haben zuhause Portraits von Nemzow ausgedruckt und in Klarsichthüllen gesteckt, die sie nun wie Ikonen vor sich her tragen. In der Luft liegt der Geruch von Weihrauch. Eine junge Frau bekreuzigt sich und stellt ein brennendes Grablicht vor das Brückengeländer.

Für Sentimentalitäten hat Anna Maslowa nichts übrig. "Religion ist Opium für das Volk", blafft die 66-jährige Rentnerin. An ihrem Revers hat sie einen gelben Peace-Anstecker befestigt. Ihr Weltbild sei materialistisch und unsentimental, sagt die pensionierte Chemie-Ingenieurin, die früher in der Rüstungsindustrie arbeitete. Nemzows Tod hat sie trotzdem berührt. "Er war der letzte Politiker, der sich traute, die Wahrheit auszusprechen", sagt Maslowa. "Wir leben wieder in einem autoritären Staat, der mehr und mehr der Sowjetunion ähnelt."


"Faschisten auf dem Maidan? Habe ich nicht gesehen"


Ohne Nemzow fehle der russischen Opposition eine kritische Stimme, die den nationalistischen Tendenzen eines Alexej Nawalny Einhalt gebieten könne. Der Rentnerin hat Nemzows Einsatz gegen den Krieg in der Ukraine imponiert. Vor ein paar Monaten war sie selbst dort und hat eine alte Freundin in der Stadt Tschernihiw im Norden des Landes besucht. "Ich war auch in Kiew auf dem Maidan, irgendwelche Faschisten habe ich dort nicht gesehen." Wer Nemzow ermordet haben könnte? Spekulieren wolle sie nicht. "Eigentlich sind wir alle schuld, wir Unmenschen! Meine Generation hat trotz unserer Geschichte einen neuen Autoritarismus nicht verhindert."


Nikifor und Maria wollen lieber keine Schuldigen ausfindig machen. Das sei Sache der Staatsanwaltschaft. "Wir sind heute hergekommen, weil wir glauben, dass niemand wegen seiner politischen Ansichten sterben sollte", sagt Maria, eine Bühnenbildstudentin. Nikifor, angehender Produktdesigner, fällt ihr ins Wort: "Mir persönlich hat weder Nemzow besonders gefallen noch seine Partei, aber er war natürlich ein charismatischer Politiker, eine starke Persönlichkeit." In Russland gebe es viele Politiker, die nur im Fernsehen eine gute Figur machten. Nemzow sei da anders gewesen - er konnte Menschen auf Demonstrationen mitreißen, sagt Nikifor.


"Wenn Europa nicht zu mir kommt, gehe ich eben nach Europa"


Auch Arsenij, der mit seinem Mountainbike zum Tatort radelte, betont Nemzows Charisma. "Ich bin sehr traurig, dass er so hinterhältig ermordet wurde", sagt der 23-jährige Software-Entwickler. Für ihn stand Nemzow für die Hoffnung auf ein offenes, Europa zugewandtes Russland. "Vor der Protestwelle von 2011 habe ich mich nicht für Politik interessiert, aber Leute wie Nemzow haben mein Interesse geweckt", sagt Arsenij.

Erst die Kritik der Oppositionellen an der inszenierten Rochade von Putin und Medwedew habe ihn für Missstände in der russischen Politik aufmerksam gemacht. "Die Regierung trägt in Russland einfach keine Verantwortung wie in Europa. Wir haben gehofft, dass Dmitri Medwedew etwas daran ändert, dass der Kreml endlich auf das Volk hört." Die Hoffnungen haben sich nicht bewahrheitet.


Jetzt fürchtet Arsenij, dass Russland nach dem Tod von Nemzow noch autoritärer wird. "Ich will keine Verschwörungstheorien spinnen, aber vielleicht profitiert der Kreml von seinem Tod und schart noch mehr Regierungsanhänger um sich." Selbst in der Metropole Moskau sei die Stimmung allmählich sehr feindselig. "Wer hier Kritik übt, wird angefeindet." Arsenij will noch ein paar Jahre Berufserfahrung sammeln, und dann raus aus Russland: "Wenn Europa nicht zu mir kommt, gehe ich selbst dahin."




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