Zur Autorin
privat
Riham Kousa ist 24 Jahre alt und lebt seit September 2014 in Berlin. Die palästinensisch-syrische Journalistin arbeitet frei und als Nachrichtenredakteurin für syrische und arabische Medien. An der Universität Damaskus hat sie als Lehrassistentin an der Fakultät für Medien unterrichtet. Sie hat in Jarmuk ihre Kindheit und Jugend verbracht.
Im Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus herrschen grausame Zustände. Einst lebten hier 160.000 Menschen. Rund 18.000 palästinensische Flüchtlinge waren noch dort, als die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) das Lager Anfang April unter ihre Kontrolle brachte. Palästinensische Milizen liefern sich seitdem heftige Kämpfe mit den Dschihadisten. Die syrische Armee hat das Viertel bereits seit 2013 belagert - inzwischen ist es komplett abgeriegelt. Die Versorgungslage ist katastrophal. Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon spricht von einem "Todeslager". Wer noch irgendwie kann, der flieht.
Die Journalistin Riham Kousa ist in Jarmuk aufgewachsen. In ihrem Bericht erzählt sie aus dem Leben im Flüchtlingslager:
"Mehr als 170 Menschen sind in Jarmuk an Hunger und Unterernährung gestorben - aber noch immer weiß niemand, was oder wo das ist. Im Flüchtlingslager essen Menschen Gras; Jugendliche weinen; betteln, sie frei zu lassen, raus aus diesem Gefängnis, raus aus Jarmuk. Ich wurde dort geboren, vor 24 Jahren. Ich bin dort aufgewachsen, in einem Gebäude, das mein Großvater in den Sechzigerjahren gebaut hat. Unser Haus war zu klein für eine Familie mit sieben Mitgliedern. Als ich in der Oberschule war, entschied sich mein Vater, eine Wohnung auf dem Dach des Gebäudes anzubauen. Es hatte zwei Jahre gedauert, bis er fertig war. Ich erinnere mich daran, wie ich den Boden geputzt habe, nachdem die Maler die Wände gestrichen hatten. Das war der Ort, an dem ich meinen künftigen Verlobten empfangen wollte, an dem ich meine Abschlussparty feiern wollte. Ich habe es nie getan.
Im Dezember 2012 rief mich meine Mutter an und bat mich, nicht zurück nach Hause zu kommen. Ich sollte einen Schlafplatz außerhalb von Jarmuk finden. Sie sagte, dass das Lager bombardiert werde und Leute den Ort verlassen würden. Ich dachte, es sei nur ein schlechter Tag, ein weiterer kleiner Kampf, wie ich ihn sonst aus meinem Schlafzimmerfenster beobachtete. An diesem Abend ging ich zum Haus meines Onkels, einen Kilometer von Jarmuk entfernt. Wir waren sechs Familien in einer Wohnung mit 100 Quadratmetern. Am nächsten Tag verließ auch meine Mutter Jarmuk, mit meinem kleinen Bruder und meinem Laptop. Sie ist nie dorthin zurückgekehrt.
Lage von Jarmuk in Damaskus
Ich bin zurückgegangen. Ich war sieben Mal dort, nachdem das Regime die Kontrolle über Jarmuk an die Rebellen verloren hatte. Ich musste meine Kleidung da rausholen, meine Bücher, offizielle Dokumente. Wer in Jarmuk geblieben ist, tat es, weil er keine andere Wahl hatte. Einige konnten keine teuren Mieten bezahlen, andere hatte Angst festgenommen zu werden, wenn sie Jarmuk verlassen. Und der Rest wollte einfach nicht sein Zuhause verlassen.
Man durfte nur fünf Scheiben Brot mit ins Lager bringen. Ein Brotberg stapelte sich vor dem Checkpunkt der Armee am Lagereingang. Das letzte Mal war ich dort, als ich einen Anruf erhielt, dass unser Haus brennen würde. Ich rannte hin, flehte die Soldaten an, mich hineinzulassen und rettete ein paar Bücher meines Vaters. Das war im Mai 2013.
Ich erinnere mich, wie die Frau meines Onkels nach der Vertreibung weinte. Sie sagte, man habe uns erst aus Palästina verjagt, und wir hätten nicht zurückkehren können - und nun aus Jarmuk. Ich hielt sie für naiv. Ich war sicher, dass wir zurückkehren könnten.
Jarmuk ist ein fauliger toter Körper
Diese Hoffnung habe ich im vergangenen Juni verloren. Ich ging nach Jarmuk, wartete drei Stunden, um reingelassen zu werden. Jarmuk war nicht mehr das Gleiche. Es sah tot aus, nicht nur zerstört. Es war ein fauliger toter Körper. Da wusste ich, dass wir niemals in unsere Häuser zurückkehren würden. Zum ersten Mal wurde mir klar, dass ich ein neues Zuhause finden müsste. Ein richtiges, nicht eines, wie das kleine Zimmer im Studentenheim der Universität Damaskus, das ich mir mit sieben anderen Mädchen geteilte hatte.
Was bedeutet es, in einem Flüchtlingscamp aufzuwachsen? Es war kein richtiges Lager, wir nannten es nur weiterhin so. Ein palästinensischer Flüchtling in Syrien zu sein, wo mein Vater geboren wurde, bedeutet beides zu sein: Syrerin und Palästinenserin. Ohne eins davon wirklich zu sein, ohne richtige Staatsangehörigkeit.
Man lernt in einer Schule des Flüchtlingshilfswerks, spricht einen palästinensischen Akzent, den man niemals verstecken können wird, behandelt seine Nachbarschaft als Zuhause und hält alles für "Damaskus", was außerhalb des Lagers ist. Das ferne und doch sehr nahe Damaskus.
Erst mit dem IS kam das öffentliche Interesse nach Jarmuk
Der "Islamische Staat" ist in Jarmuk. Jetzt erst beachten Medien und die internationale Gesellschaft die humanitäre Krise, die es dort seit mehr als zwei Jahren gibt. Ich fühle mich hilflos und hoffnungslos und von Trauer überwältigt. Freunde von mir sitzen dort fest. Einer von ihnen nutzte kürzlich seine täglichen 30 Minuten Internetverbindung, um einen Beitrag mit dem Titel "40 Regeln, um unter der Belagerung zu leben" zu posten. Er schrieb, er sei nicht sicher, ob er lange genug überleben werde, um sie alle aufzuschreiben. Ein anderer Freund schrieb: "Bitte hört auf zu sagen, dass ihr mit uns fühlt. Ich schwöre, ihr tut's nicht."
Armeeflugzeuge bombardierten Jarmuk, nachdem der IS in das Lager kam. Beide zerstören, was vom Jarmuk übrig ist. Die Menschen dort kämpfen gegen den Tod. Nachdem ein palästinensisches Krankenhaus bombardiert wurde und ein Teil davon zerstört, postete das Team ein Foto, um den Jarmukern zu verkünden, dass sie noch leben. Und schon räumen die Menschen in Jarmuk Schutt von der Straße. Sie warten weiterhin auf uns. Auf den Tag, an dem alles wieder zum Leben erwacht."
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