mardi 21 avril 2015

Retter bei der Flüchtlingskatastrophe: "Wir sind dorthin, wo wir Schreie gehört haben"

Die Flüchtlinge sind schon wieder weg. Gleich nach der Ankunft in Sizilien wurden die 27 Überlebenden weitergeschleust durch die italienische Asylmaschine: 21 kamen ins nahe Auffanglager, vier Teenager ins Jugendheim, zwei der mutmaßlichen Schleuser - Kapitän und Steuermann - auf die Polizeiwache.

Die Retter bleiben zurück. Sie gehen in Catania gerade von Bord der "Gregoretti". Ein Arzt, 30 Jahre alt, und ein Sanitäter, 23 Jahre: die medizinische Abteilung des Küstenwachkreuzers. Sie haben dafür gesorgt, dass es zumindest diese 27 geschafft haben. Giuseppe Pomilla, der Arzt, sagt zur Begrüßung: "Schade, dass Ihr nie vorbeikommt, wenn wir mehr Lebende retten."

Die wohl größte Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer hat auch in Catania, dem zweitgrößten Hafen Siziliens, die Dinge verändert. Migranten stranden hier Tag für Tag, doch bei der Ankunft der "Gregoretti" mit Überlebenden des Unglücks mit bis zu tausend Toten warteten in der Nacht zum Dienstag nicht nur Helfer des Rotes Kreuzes - sondern Kamerateams aus ganz Europa und Demonstranten. "Mörder, Mörder!", rufen sie dem italienischen Verkehrsminister entgegen.

Denn diese 27 Überlebenden sind ein Politikum. Und ihre Retter finden sich plötzlich im Rampenlicht der großen Flüchtlingsdebatte wieder.

Eigentlich versorgen Giuseppe Pomilla, der Mediziner aus Palermo, und Enrico Vitiello, Sanitäter aus Neapel, an Bord die geretteten Flüchtlinge. Schon seit vergangenem Sommer sind sie für den Malteserorden auf dem Mittelmeer unterwegs. Doch in der Nacht zum Sonntag mussten sie mit raus auf die Schlauchboote. Zusammen mit drei, vier Küstenwächtern, mussten sie Körper aus dem Wasser ziehen, immer wieder. "Wir sind dorthin, wo wir Schreie gehört haben", sagen sie.

Pomilla, der Arzt, erzählt, wie ihn ein Afrikaner, den er gerade an Bord gezogen hatte, im perfekten Englisch fragte: Wer seid ihr? "'Wir sind Italiener', habe ich gesagt. Da hat er gelächelt."

"Ich denke an meine Freunde da draußen"

Die meisten der Überlebenden kämen aus Mali. Manche hatte er schon aufgegeben. Ein Mann, "24, 25 Jahre alt vielleicht und sehr groß", war bereits ganz starr, als sie ihn herausfischten. "Der schwamm schon zwei Stunden im Wasser," sagt Pomilla. "Ich wusste nicht, ob er tot ist oder noch lebt."

Später, wieder an Bord der "Gregoretti", hörte er aus der Krankenstation ein Schluchzen. Als er nachschaute, stand dort der Mann. "Er lag nicht, er saß nicht, er stand und hatte das Gesicht in den Händen vergraben." Mit tränenerstickter Stimme habe der Flüchtling gesagt: "Ich denke an meine Freunde da draußen." Da habe auch er geweint, sagt der Arzt. "Wir haben uns dann umarmt."

Pomilla, der Arzt, und Vitiello, der Sanitäter, sind nicht Teil der Rettungseinsätze "Triton" oder "Mare Nostrum", über die in diesen Tagen so viel diskutiert wird. Sie sind ein Stück Alltag der italienischen Küstenrettung, in dem seit Jahren manche Flüchtlinge gerettet werden, andere ertrinken oder verdursten. Sie sind nur im Scheinwerferlicht, weil es diese Großkatastrophen der vergangenen Tage gab.

Jetzt haben die Kamerateams die beiden Retter entdeckt. Am Dienstagmittag werden sie im Hafen so platziert, dass an der Pier im Hintergrund die "Gregoretti" zu sehen ist. Sie erzählen ihre Geschichten jetzt noch ein paar Mal in die Mikrofone: ARD, France 2, und ein Brite von Sky News fragt, ob Pomilla nicht noch mal auf Englisch erzählen könne, wie er da an einem Bein gezogen habe, ohne zu wissen, ob der dazugehörige Körper gelebt habe. Nein, sagt der, scusi.

Weder tot noch lebendig

Aber sie machen das jetzt mit, geben in der prallen Sonne Interview um Interview. Jetzt sind sie die Flüchtlingsretter, die selber entkräftet von Kollegen eine Flasche Wasser gereicht bekommen. Pomilla trinkt sie in zwei Zügen aus.

Vitiello sagt, seit dem Notruf am Samstagabend habe er insgesamt vielleicht vier Stunden geschlafen. Sie haben weitere Überlebende eingesammelt, die ein portugiesisches Handelsschiff aufgefischt hatte, haben in Malta Leichensäcke an Bord genommen, Schmerz- und Schlafmittel verteilt. Im Hinterkopf, sagt Vitiello, immer wieder der Gedanke: Da waren Hunderte, die wir weder tot noch lebendig erwischt haben.

Ihnen ist es wichtig, über ihren Alltag zu sprechen. Ihr Chef, der Direktor des italienischen Malteserordens, ist extra aus Rom angereist. Nach zwei Stunden beendet er den Interviewmarathon. "Basta, sie müssen jetzt an Bord."

Am Abend läuft die "Gregoretti" wieder aus. Die nächste Patrouillenfahrt zwischen Sizilien, Lampedusa und der Küste Libyens, wo Tag für Tag die Boote der Migranten ablegen. Pomilla, der Arzt, und Vitiello, der Sanitäter, sollen sich zumindest noch ein, zwei Stunden ausruhen können.

Doch bevor Pomilla an Bord geht, hat er selbst noch eine Frage: "Was denkt Ihr Deutschen eigentlich über das, was wir hier machen?

Zum Autor

Julia Kneuse

Fabian Reinbold ist Redakteur bei SPIEGEL ONLINE im Ressort Politik.

E-Mail: Fabian Reinbold@spiegel.de

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