mercredi 11 mars 2015

Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer: Ein Fischkutter gegen das Sterben


Im Binnenhafen in Hamburg-Harburg arbeitet eine Handvoll Freiwilliger daran, aus einem alten Kutter wieder ein hochseetaugliches Schiff zu machen. In der ersten Frühlingssonne schweißt ein junges Paar an den Schiffsmasten, die noch am Kai liegen. Auf der Kommandobrücke stecken zwei Köpfe in einem Wust aus Kabeln, um die Elektronik auf den neuesten Stand zu bringen. Skipper Tilmann Holsten überprüft gerade ein Radargerät.


Es ist viel zu tun auf dem fast hundert Jahre alten Fischkutter, mit dem Ende März der Kampf gegen die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer geführt werden soll. Für einige der Zehntausende Menschen, die auf der Überfahrt von Afrika nach Europa jährlich ihr Leben riskieren, könnte die "Sea Watch" die Rettung werden. Doch bis aus einer wagemutigen Idee ein funktionstaugliches Schiff wird, ist noch viel zu tun.

Im Januar hat Holsten den Kutter erstmals bestiegen, ihn aus den Niederlanden nach Hamburg überführt. Seitdem ist er im Dauereinsatz, damit die "Sea Watch" Ende März auslaufen kann. Holsten, der mit seinem schwarzen Kapuzenpulli und passendem Käppi aussieht wie ein in die Jahre gekommener Autonomer, ist überzeugt von der Mission: "Das Schiff soll Wirbel machen." Die Tragödie an Europas Außengrenze schockiert den Seemann, zum Beispiel das Bootsunglück Ende 2013 vor Lampedusa, als 390 Menschen ertranken.


Herzstück des Schiffs ist eine Satellitenkommunikationsanlage, die jeder Zeit für eine leistungsstarke Internetverbindung sorgen soll. In Not geratene Boote können damit lokalisiert und der Kontakt zur Außenwelt, etwa zur Seenotrettung, aufrecht erhalten werden.


Gefährliche Passage nach Lampedusa


Für zunächst drei Monate soll die 21 Meter lange "Sea Watch" in einem Gebiet zwischen Malta und Libyen, etwa 80 Kilometer vor Lampedusa, unterwegs sein. In dieser Region ereignen sich 80 Prozent aller Unglücke von Flüchtlingsbooten. Allein im vergangenen Jahr kamen hier mehr als 3500 Menschen ums Leben .


Ausgestattet mit Schwimmwesten- und inseln, Lebensmitteln und Trinkwasser können die maximal acht Crewmitglieder vor Ort erste Hilfe leisten, Notrufe absetzen und überprüfen, ob und wie darauf reagiert wird. Sie wollen ihre Arbeit penibel dokumentieren, um damit auf Missstände europäischer Politik aufmerksam zu machen.


Holsten selbst wird dann nicht mehr dabei sein. Denn ab April muss er wieder Geld verdienen. Dann segelt er mit Touristen auf seinem eigenen Traditionsschiff über die Ostsee. Doch es gibt etliche Interessierte, die sich um einen Platz für die jeweils zweiwöchigen Manöver vor der afrikanischen Küste bewerben. "Ärzte, Schiffbauingenieure, Punks und Freaks", sagt Holsten.


Die idee zu dem Projekt entwickelten vier Familien in Brandenburg. "Keine Berufsaktivisten", wie der dreifache Familienvater und Sprecher der Initiative, Harald Höppner, betont. Bislang hätten sie sich dafür eingesetzt, in ihrem Dorf im Landkreis Barnim Wohnungen für Flüchtlinge zu besorgen. Im Familienkreis sammelten sie das Geld für die Startphase der "Sea Watch". Für das Schiff, das mehrere Zehntausend Euro gekostet hat, und für die Tankfüllung für die ersten drei Monate auf See hat es gereicht. Danach sind die Initiatoren auf Spenden angewiesen


EU-Politik setzt auf Abschottung


"Wir haben gesehen, dass um Europa eine neue Grenze entsteht, und wollten dem Sterben nicht mehr länger zusehen", sagt Höppner. Die Politik verstecke sich hinter Gesetzen und Verordnungen.


Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat den Auftrag, das italienische Hoheitsgebiet bis zu 30 Kilometer vor der Küste zu sichern. Für die Seenotrettung fühlt sich die Organisation jedoch nicht zuständig. Diese Aufgabe erfüllte bis zum vergangenen Oktober die italienische Operation "Mare Nostrum". Innerhalb eines Jahres wurden bei Einsätzen bis vor der libyschen Küste mehr als 100.000 Menschen sicher an Land gebracht. Dann war damit Schluss, neun Millionen Euro pro Jahr waren der EU zu viel, um Menschen das Leben zu retten.


Die Gegner der "Sea Watch" seien aber nicht die Seemänner der italienischen Küstenwache, sagt Johannes Bayer, ein anderes Crewmitglied. Frontex dagegen müsse kritisch gesehen werden. Er erzählt von so genannten Pushback-Operationen: Dabei werden die meistens kaum seetauglichen und völlig überfüllten Flüchtlingsboote wieder in Richtung afrikanischer Küste abgedrängt. Bayer, der in Stockholm in Schiffbauingenieurwesen promoviert, sagt: "Wenn Frontex beobachtet wird und nicht mehr im Grauen arbeitet, können sie das nicht mehr machen."


Die "Sea Watch" will keine Alleingänge starten, jeder Schritt soll mit der italienischen Küstenwache abgesprochen werden. "Wenn dort der Notruf eines unter deutscher Flagge fahrenden Schiffes eingeht, müssen sie reagieren", erläutert Höppner.

Flüchtlinge an Bord zu nehmen, sei aber nicht das Ziel. Denn die Crew will nicht unter Schleuserverdacht geraten. Höppner sieht seine Aufgabe vielmehr darin, diejenigen, die für eine effektive Rettung sorgen können, an ihre Aufgaben zu erinnern.


Skipper Holsten hat auf einer Couch in der Kajüte des Schiffs Platz genommen. Alles ist holzvertäfelt, es gibt eine kleine Küche, ein Bad mit Wanne und zwei Schlafkojen. Er macht sich Gedanken darüber, was die Crew, für die noch Berufskapitäne und Ärzte gesucht werden, erwarten wird: "Vielleicht sehen sie wochenlang überhaupt kein Schiff. Vielleicht werden sie aber auch mit Leichenbergen konfrontiert."






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