jeudi 12 mars 2015

Vier Jahre Bürgerkrieg: Tränen für Syrien


Gaziantep/Kahramanmaras - Solange keine Bomben fielen, sah Aishe keinen Grund, ihr Dorf zu verlassen. Sie detonierten woanders - in der Nähe zwar, in Aleppo zum Beispiel und in den umliegenden Orten, aber ihr Dorf blieb verschont. In der Nachbarschaft kämpften Rebellen gegeneinander oder gegen syrische Truppen. Das war ihr nie völlig klar, aber es war ihr auch egal - sie war im achten Monat schwanger, und ihr Leben sollte sich bald um ihr Kind drehen, nicht um Politik und Krieg.


Dann kamen die Flugzeuge. Sie warfen Fassbomben über ihrem Dorf ab, wahllos, ziellos. Komplette Straßenzüge wurden in Schutt und Asche gelegt. Erst jetzt glaubte sie, was die Leute schon lange sagten: Das Regime löscht sein eigenes Volk aus. "Die Regierung glaubt, dass wir alle gegen sie sind", sagt Aishe. "Nur weil es vielleicht ein paar Rebellen in unserem Dorf gibt."

Vier Jahre hat sie mit ihrer Familie dem Krieg getrotzt, hat versucht, ihn zu ignorieren. "Freunde haben immer wieder geraten: Bringt euch in Sicherheit! Aber wir wollten in unserer Heimat bleiben." Jetzt packten auch Aishe, ihr Mann, die Schwiegereltern und die Kinder ihre Sachen zusammen und flüchteten zu Fuß über die Grenze bis nach Gaziantep.


Die Familie gehört zu den offiziell gut 1,6 Millionen Syrern, die seit dem Ausbruch der Gewalt im März 2011 Zuflucht in der Türkei gesucht haben. Mehr als 1,1 Millionen sind im kleinen Libanon untergekommen, 620.000 in Jordanien, 235.000 im Irak und 136.000 in Ägypten. Innerhalb Syriens sind schätzungsweise 7,6 Millionen Menschen auf der Flucht. Der Uno-Sondergesandte für Syrien, Staffan de Mistura, nennt es die "größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg".


"Wir haben keine Ersparnisse mehr"


Mitten in dieser Katastrophe ist vor zehn Tagen Aishes Kind auf die Welt gekommen, in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Gaziantep, die die Familie für 250 türkische Lira im Monat mietet. Das entspricht knapp 90 Euro. Hinzu kommen Kosten für Strom, Wasser und Gas. "Wir haben keine Ersparnisse mehr und kein Einkommen", sagt Aishe. "Ich esse zu wenig und kann mein Kind nicht stillen. Ich habe einen Arzt aufgesucht, der sagte mir, dass ich Milchpulver für mein Kind besorgen soll. Ich ging in eine Drogerie, aber eine Packung Milchpulver kostet so viel wie wir insgesamt pro Woche für Lebensmittel ausgeben können."


Aishe weint. Vor ein paar Tagen haben Freunde ihr am Telefon erzählt, dass ihr Haus bei Aleppo nur noch ein Haufen Trümmer ist. "Jetzt besitzen wir gar nichts mehr", sagt sie. Ihre Schwiegereltern sind alt, und ihr Mann darf nicht arbeiten. Viele syrische Flüchtlinge arbeiten schwarz, und die türkische Polizei schaut wohlwollend weg. Derzeit ist ein Gesetz in Planung, wonach eine Person aus jeder syrischen Familie offiziell einen Job annehmen darf.


Da sie noch nicht als Flüchtling in der Türkei registriert ist, bekommt Aishe keine staatliche Hilfe. Trotzdem steht sie zur Mittagszeit vor einer Essensausgabe, die Flüchtlinge mit einer warmen Mahlzeit versorgt. In ein paar Tagen, hofft sie, bekommt sie einen Flüchtlingsausweis. "Dann wird alles besser. Wir werden wohl noch eine Weile in Gaziantep bleiben müssen." Sie sehne sich nach Syrien, aber wie die meisten Syrer glaubt sie nicht an ein baldiges Ende der Gewalt.


Eine Autostunde von Gaziantep entfernt liegt die Stadt Kahramanmaras, wo auch die Bundeswehr mit Flugabwehrraketen stationiert ist, zum Schutz vor möglichen syrischen Angriffen. Hier betreibt die türkische Regierung eines von 25 Camps. Nur jeder achte syrische Flüchtling in der Türkei lebt in einer solchen Siedlung aus Zelten und Containern. Die Mehrheit schlägt sich selbst durch, viele davon in Metropolen wie Istanbul oder Izmir.


Ahmed Ramadan ist vor zwei Jahren aus Aleppo nach Kahramanmaras gekommen. Mit seiner Frau und seinen drei Kindern teilt er sich ein 16 Quadratmeter großes Zelt, ausgelegt mit Teppich und Kissen. Nachts legen sie Matratzen aus, aus dem Wohnraum wird dann ein Schlafzimmer. Im Vorzelt stehen eine Kochplatte und ein Kühlschrank. Die Katastrophenschutzbehörde Afad hat jedes Zelt damit ausgestattet, außerdem mit jeweils einem Ventilator und einem Heizofen.


"Ein richtiges Zuhause ist ein Zelt nicht"


"Es geht uns gut", sagt Ramadan. Nur langweilig sei ihm, gerne würde er wieder als Schneider arbeiten. In einer Ecke läuft ein alter Fernseher. "Nachrichten aus Syrien", sagt er. Man sieht Raketeneinschläge und Staubwolken, die sich um Häuser legen. Ramadan schüttelt den Kopf. "Das sind Bilder, die meine Kinder in Realität gesehen haben. Deshalb sind wir geflohen." Die Kinder hätten bis heute Angst vor Flugzeugen.


Auch das Haus der Familie Ramadan in Aleppo existiert nicht mehr. "Im Camp können meine Kinder wenigstens in die Schule gehen, wir bekommen eine Geldkarte, mit der wir für 82 Lira pro Person und Monat im Supermarkt im Camp einkaufen können, Strom, Wasser und Gas werden ebenfalls für uns bezahlt, und wir können kostenlos zum Arzt." Er denkt nach. "Aber ein richtiges Zuhause ist ein Zelt nicht." Nach Europa flüchten komme nicht in Frage, sagt er. "Da habe ich zu viele Horrorgeschichten gehört." Am liebsten wolle er zurück nach Syrien. "Wer weiß, mit Gottes Hilfe wird das vielleicht irgendwann möglich sein."


Der türkische Staat hat nach eigenen Angaben bislang mehr als fünf Milliarden Dollar für die Hilfe ausgegeben. Die Regierung geht von steigenden Flüchtlingszahlen aus, sollte der Konflikt länger dauern - und danach sieht es aus. Man benötige dringend mehr finanzielle Hilfe aus dem Westen, fordern türkische Politiker deshalb.

Das Uno-Welternährungsprogramm (WFP), das die Nothilfe für die Flüchtlinge zu einem großen Teil mitfinanziert, schlägt Alarm: Die Arbeit der Organisation in der Region ist bis Mai nicht einmal zur Hälfte finanziert. Etwa 180 Millionen Euro fehlen. Sollten die reichen Länder die zugesagten Gelder nicht bald überweisen, müssten Hilfsprogramme wie schon im Dezember unterbrochen oder sogar eingestellt werden.


Hilfsorganisationen wie Save the Children, Oxfam und World Vision werfen der Weltgemeinschaft vor, das Ausmaß der Katastrophe zu unterschätzen. 2014 sei "das blutigste Jahr des Konflikts", heißt es in einem Bericht mit dem Titel "Failing Syria". Schon 2013 waren demnach nur 71 Prozent der erforderlichen Nothilfemaßnahmen zum Schutz von Zivilisten finanziert - 2014 sank die Deckung auf 57 Prozent. Die Weltgemeinschaft, lautet das düstere Fazit, würde Syrien zunehmend ignorieren.


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