mardi 7 avril 2015

Urteil zu Polizeigewalt: Italiens Folter-Anführer kommen davon


Wenig Zeit? Am Textende gibt's eine Zusammenfassung.




Carlo Giuliani war 23 Jahre alt, als er an einem Freitagnachmittag, gegen 18 Uhr, in der Altstadt von Genua starb. Mit einem Feuerlöscher bewaffnet war er auf einen parkenden Polizeiwagen zugerannt. Drinnen saß der 20-jährige Carabiniere Mario Placanica, mit einer Pistole in der Hand und viel Angst. Er schoss und traf Carlo Giuliani in den Kopf. Der fiel. Placanicas Carabiniere-Kollege am Steuer raste in Panik los, überrollte den sterbenden Giuliani. 14 Jahre ist die grausame Szene her, sie spielt am 20. Juli 2001. Vorher hatte es heftige Straßenschlachten in Genua gegeben. Viele tausend Menschen aus ganz Europa und den USA protestierten gegen den sogenannten "G8-Gipfel", ein jährliches Treffen der Regierungschefs von acht größeren Industriestaaten. 20.000 Polizisten hielten auf den Straßen dagegen. Aber nicht nur das.

Am Tag danach, nach neuen Protestaktionen mit bis zu 300.000 Teilnehmern, stürmten schwerbewaffnete Polizei-Einheiten die von der Stadt für Demonstranten bereit gestellte Diaz-Schule. Dort gab es eine Erste-Hilfe-Station für Verletzte und eine Rechtshilfestelle für festgenommene Demonstranten. Und es gab viele schlafende Männer und Frauen, über die sich die Einheiten mit ungeheurer Brutalität hermachten. Vor allem Zivilkräfte, nur durch ein Leibchen mit der Aufschrift "Polizei" ausgewiesen, prügelten drauflos.


"Unmenschliche, erschütternde Schreie" habe er gehört, sagt der Chef der Bereitschaftspolizei später vor Gericht aus. Er habe gesehen, wie Menschen mit Polizeistiefeln getreten wurden. Er spricht von einem "Schlachthaus". 73 Personen wurden zum Teil schwer verletzt, viele mussten mit Knochenbrüchen herausgetragen werden.


Als Folter einzustufen


Heute, nach einem 14-jährigen Rechtsweg, bekam Italien die Quittung für die unmenschliche und rechtswidrige Staatsaktion. Der Polizeieinsatz in der Diaz-Schule, so befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, müsse "als Folter eingestuft werden".


Das Urteil hat Arnaldo Cestaro erstritten, kein junger, heißblütiger Brandsatzwerfer, sondern ein ruhiger, schmächtiger Italiener, der in den blutigen Tagen von Genua schon 62 Jahre alt war. Der überzeugte Globalisierungsgegner leidet noch heute unter den Folgen der Polizeigewalt. Auch er wurde, sagte er, "grundlos geschlagen und getreten". Deshalb verklagte er sein Heimatland beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verstoßes gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dort heißt es: "Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden" (PDF).


Die Polizisten hätten in der Tat grundlos und "willkürlich" zugeschlagen, urteilten jetzt die Straßburger Richter, der brutale Einsatz der Polizei sei durch nichts zu rechtfertigen gewesen. Sie sprachen dem Kläger als Opfer staatlicher Folter 45.000 Euro Schadenersatz zu. Zugleich kritisierten sie, dass im italienischen Recht ein klares Folterverbot fehle. Das römische Strafrecht sei nicht geeignet, Täter zu überführen und damit eine abschreckende Wirkung zu erzielen.


Wer gab die Befehle?


Im Gegenteil sind die Vorgänge in Genua von der italienischen Justiz bis heute nicht wirklich aufgeklärt. Einzelne Polizisten wurden zwar verurteilt. Viele Anklagen verjährten jedoch auf dem langen italienischen Rechtsweg. Andere Täter wurden verurteilt, aber ihre Strafen sind durch Rechtsänderungen der letzten Jahre einfach hinfällig geworden.


Andere wichtigte Fragen sind nicht einmal richtig gestellt worden:



  • Wer gab die Befehle, die Demonstranten im Schlaf zu überfallen?

  • Wer ließ Molotowcocktails in der Diaz-Schule verstecken, damit man sie später finden und als Rechtfertigung für den Überfall nutzen könnte?

  • Wie verhielt sich der Innenminister, der in der kritischen Zeit im Leitungszentrum der Polizei anwesend gewesen sein soll?


Und vor allem: Welche Rolle spielte der Gastgeber des G8-Gipfels, Ministerpräsident Silvio Berlusconi? Er hatte das Treffen mit sieben Amtskollegen als rauschendes Glamour-Meeting konzipiert, zu seinem Glanz und Ruhme. Er hatte die Bauarbeiten persönlich überwacht, die Möblierung in den Tagungs- und Entspannungszonen selbst bestimmt.

Auf sein Geheiß hin wurden überall in der - für normale Menschen gesperrten - Innenstadt von Genua Zitronen- und Orangenbäumchen aufgestellt. Trugen die keine leuchtenden Früchte, wurden ihnen mit dünnen Bändchen welche verpasst. Doch als es blutig wurde in Genua, als Rauchsäulen und Tränengasschwaden aufstiegen, hat er sich nicht mehr gekümmert.


Daran ändert auch das späte Urteil aus Straßburg nichts. Aber immerhin können weitere, mindestens zwanzig Kläger, nun damit rechnen, dass auch ihre Fälle mit einem Urteil gegen Rom enden. Und dass sich die politischen Nachfahren von Berlusconi vielleicht doch aufraffen, das italienische Recht menschenrechtskonform zu machen.




Zusammengefasst: Im Sommer 2001 verletzten italienische Polizisten beim G8-Gipfel in Genua viele Menschen, ein junger Mann starb. Nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geurteilt: Mindestens ein Opfer erhält Schadensersatz, weitere könnten folgen. Doch an der unsicheren Rechtslage für Folteropfer in Italien ändert sich nichts.




Share this post
  • Share to Facebook
  • Share to Twitter
  • Share to Google+
  • Share to Stumble Upon
  • Share to Evernote
  • Share to Blogger
  • Share to Email
  • Share to Yahoo Messenger
  • More...

0 commentaires:

Enregistrer un commentaire