jeudi 16 avril 2015

Vierlinge mit 65: Ideologin der Machbarkeit

Annegret Raunigk ist 65 Jahre alt, hat dreizehn Kinder und ist im fünften Monat mit Vierlingen schwanger. Nicht gerade ein typischer Fall. Eine Sensation. RTL hat die ungewöhnliche Gebär-Mutter unter Vertrag. Die "Bild"-Zeitung ist an der Familie "dran". Aber das hier ist mehr als eine irre Geschichte für die Regenbogenmedien. Frau Raunigk aus Berlin ist nicht allein. Sie treibt den Wahn der Optimierungsgesellschaft nur an seine äußerste Grenze: Mehr! Besser! Jetzt! Wo früher Schicksal war soll totale Kontrolle sein. Auf der Strecke bleibt die Menschlichkeit.

Der berühmte Boulevard-Slogan, dieses eine Mal trifft er zu: Ganz Deutschland diskutiert. Darf die das? Soll die das? Und was lernen wir daraus über uns? Die Antworten der Reihe nach: Nein. Nein. Nichts Gutes.


Die Eizellen sind nicht ihre. Den Spender der Samen kennt sie nicht. Aber Annegret Raunigk, Grundschullehrerin aus Berlin, trägt die Kinder aus. Es werden Nummer 14, 15, 16 und 17 sein. Wenn alles gut geht. Das Risiko, dass etwas schief läuft, ist hoch. Für Mutter und Kinder. Es ist immer gefährlich, Vierlinge zu bekommen. Mit 65 Jahren ist es irrwitzig. Der Mutter drohen Bluthochdruck und Schwangerschaftsdiabetes. Den Kindern Untergewicht, Seh- und Hörschäden und Entwicklungsstörungen.


"Aus ärztlicher und ethischer Sicht eine Grenze überschritten"


Was Frau Raunigk mit ihrer Gebärmutter hat anstellen lassen, ist in Deutschland verboten. In der Ukraine nicht. Unser neuer Bruderstaat im Osten hat, was das werdende Leben angeht, großzügige Regelungen, um es freundlich zu formulieren - nämlich praktisch gar keine. Was geht, geht und wer zahlt, schafft an. In Kiew, so kann man lesen, kostet die Eizelle 9900 Euro, plus einsetzen, Samenspende nicht inklusive.


"Eine solche Schwangerschaft kann und darf für niemanden ein Vorbild sein." SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach hat das dankenswerterweise klargestellt. Die Gefahr ist allerdings nicht sehr groß: Es gibt nicht so viele Leute, die mit 65 noch Mutter werden wollen. Dennoch ist Frau Raunigks sonderbare Geschichte nicht nur ein skurriler Einzelfall.


Lauterbach sagt: "Aus ärztlicher und ethischer Sicht wird hier eine Grenze überschritten. Wir wissen aus Erfahrung, dass es bei künstlichen Befruchtungen im hohen Alter ein erhebliches Risiko von Frühgeburten und Untergewicht gibt."


Da wird es interessant: was meint der SPD-Ethiker? Sind nur Geburten ohne Risiko gute Geburten? Es liegt auf der Hand, dass dieser Gedanke nicht gut endet: Sollen Paare, die mit Erbkrankheiten belastet sind, besser keine Kinder bekommen? Und was, wenn in der Schwangerschaftsdiagnostik eine Behinderung festgestellt wird?


Man wird Frau Raunigk nicht vorwerfen können, dass die Natur Schwangerschaften im hohen Alter nicht vorsieht. Von Antibiotika bis Antibabypillen sieht die Natur vieles nicht vor, was wir für selbstverständlich halten. Und außerdem, was heißt heute schon hohes Alter? Wer soll denn entscheiden, ab wann eine künstliche Befruchtung nicht mehr erfolgen soll? Alle sehr kompliziert. Wie immer, wenn es um die Verrechtlichung ethischer Fragen geht.


Aber die viel tiefer liegende Dimension ihrer Geschichte hat Annegret Raunigk selbst enthüllt, als sie in einer RTL-Sendung die entscheidenden Sätze sagte: "Ich bin der Meinung, dass jeder sein Leben so leben sollte, wie er möchte. Da es diese Möglichkeit gibt, und sie auch von Tausenden Menschen genutzt wird, darf man die auch nutzen. Wie muss man mit 65 sein? Man muss ja offensichtlich immer irgendwelchen Klischees entsprechen."


Neoliberalismus als Biopolitik


Sie erweist sich damit als Kapitalistin ihres eigenen Körpers. Das Ziel ist die Profitmaximierung des Lebens. Kontrolle statt Schicksal. Das ist Neoliberalismus als Biopolitik. Im modernen Kapitalismus ist jeder Herr und Knecht in einer Person. Ein selbstausbeutender Arbeiter im Unternehmen des eigenen Lebens.


Frau Raunigk redet von Freiheit. In Wahrheit predigt sie die Ideologie der Machbarkeit und die ist eine Ideologie der Unmenschlichkeit. Im Kampf gegen den Schmerz, den Verlust, den Verzicht, die Krankheit wird alle Macht der Wissenschaft aufgebracht. Am Ende steht mit der Sterbehilfe noch das Ideal des selbstgewählten Todes als perfekte Illusion der vollkommenen Souveränität.

Wir werden dahin kommen, dass sich schuldig macht, wer krank ist. Dass sich verdächtig macht, wer seine Karriere für die Familie opfert. Dass als Zumutung betrachtet wird, wer hässlich ist. Und dass der Unglückliche als einer gilt, der sich nicht genug bemüht hat. Am Ende wird der Wert des Lebens in Opportunitätskosten berechnet. Der Schattenpreis jeder nicht genutzten Chance wird dem Verschwender bei der Bilanz als Debet angelastet.


Aber wo Leid Versagen bedeutet, weicht das Mitleid der Verachtung. Und wer die Fähigkeit zum Leiden verliert, verliert am Ende auch die Fähigkeit zum Mitleid - und damit die Menschlichkeit.







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