dimanche 1 mars 2015

Trauermarsch für Boris Nemzow: "Wir wollen spüren, dass wir nicht allein sind"


Als sich der Trauerzug in Bewegung setzt, tragen sie ganz vorn ein langes Transparent: "Diese Kugeln galten jedem von uns", steht darauf. So ziehen sie los, vorbei an den roten Mauern des Kreml und an der Stelle, an der die tödlichen Schüsse in der Nacht auf Samstag den Oppositionspolitiker Boris Nemzow trafen.


Einige legen dort Blumen nieder und zünden Kerzen an. "Helden sterben nicht", hat jemand auf eine Pappe geschrieben. Es ist das gleiche Motto, mit dem auch in Kiew den Toten des Maidan gedacht wird. Viele hier sind überzeugt, dass auch die Ermordung mit den Geschehnissen in der Ukraine zusammen hängt: Die Revolution im Nachbarland hat die russische Gesellschaft polarisiert.

Wie viele Menschen tatsächlich gekommen sind, um Nemzow die Ehre zu erweisen, ist schwer zu sagen. Die Polizei spricht zwischenzeitlich von gerade einmal 7000. Aber das Ufer am Moskwa-Fluss ist schwarz vor Menschen. Die Polizei hat zu wenige Metalldetektoren aufgestellt, viele stehen sich an den Zugängen über Stunden die Beine in den Bauch. Dann erst können sie passieren. Die Veranstalter sprechen von 50.000 Teilnehmern.


"Propaganda tötet" steht auf vielen Plakaten. Gemeint sind vor allem die Kampagnen des Staatsfernsehens, in dessen Sendungen Boris Nemzow so oft diffamiert wurde als vom Ausland gekaufter Agent. Einer der Demonstranten hat sich ein Blatt Papier mit den Namen der großen, vom Kreml kontrollierten Staatssender auf den Rücken geklebt: 1. Kanal, Rossija24, NTW, Rossija 1, das seien die wahren "vier Kugeln", die Nemzow auf dem Gewissen hätten.


Weronika Kotkowa hält ein Schild in die Luft, ein weißes Blatt mit schwarzem Rand. "Ich fürchte mich nicht", steht darauf. Sie ist 59 Jahre alt und kommt aus der Provinzstadt Orjol. Sie ist in der Nacht fünf Stunden mit dem Zug angereist. Am Abend geht es wieder fünf Stunden zurück. Sie hat die Trauer um Nemzow bewogen, nach Moskau zu fahren. "Er war ein charismatischer und sehr offener Mensch", sagt sie. Kotkowa sorgt sich aber auch um den Kurs, den der Kreml im Konflikt mit der Ukraine eingeschlagen hat. Im September hat sie in Moskau deshalb schon einmal an einer Antikriegs-Demonstration teilgenommen.

Wer trägt die Schuld für den Mord an Nemzow?


"Das kann man heute natürlich noch nicht wissen", sagt Kotkowa. Sie ist sich sicher: Präsident Putin steckt nicht dahinter. Der Tod des Oppositionspolitikers schade dem Präsidenten selbst. Kotkowa hält den Anschlag eher für eine indirekte Folge der Politik des Kreml-Chefs. Der Mord hänge vermutlich zusammen mit dem Krieg in der Ost-Ukraine. "Wir unterstützen dort diese unsäglichen "Volksrepubliken" in Donezk und Luhansk. Wir haben Männer dorthin geschickt zum kämpfen. Nun kehren sie zurück und suchen sich auch hier Ziele", sagt sie.


Ein paar Meter weiter steht Xenia, eine Frau Mitte dreißig, sie arbeitet bei einer Bank. Sie wollte an der ursprünglich für Sonntag geplanten großen Oppositionsdemonstration teilnehmen, protestieren gegen den ihrer Meinung nach verfehlten Kurs der russischen Führung. "Ich muss Leute entlassen, das russische Bankensystem leidet unter den Sanktionen", sagt sie. Schuld daran sei Putins Konfrontationskurs mit dem Westen, die Annexion der Krim, die grassierende Korruption. "Putin und seine Leute sind Diebe und Gauner, und wie es jetzt aussieht auch noch Mörder", sagt sie.


Alexander ist Anfang 50, ein Maler mit Künstlermähne. Er sei kein Anhänger der Opposition, wolle aber Nemzow die letzte Ehre erweisen. Er glaubt, dass eine rechtsextreme Kampforganisation hinter dem Mord an dem Politiker stecken könnte. Ähnliche Anschläge hatte es in Moskau bereits gegeben, 2009 starben ein Anwalt und eine Journalistin durch Schüsse, die ein Nationalist abgegeben hatte. "Uns stehen schwere Zeiten bevor", sagt Alexander.

Als die Massen den Kreml passieren, skandieren einige den Schlachtruf der Opposition: "Russland ohne Putin". Doch das ist an diesem Sonntag eher die Ausnahme. Die meisten marschieren still, schockiert von der Tat. Weronika Kotkowa sagt, sie habe Angst davor, was als nächstes komme. "Unsere Gesellschaft steht am Rande des Bürgerkriegs", sagt sie. "Diese verdammte Propaganda verdreht den Leuten den Kopf." In ihrer Heimatstadt Orjol aber steht sie mit dieser Überzeugung ziemlich einsam da. Die meisten Bürger dort unterstützten den Kurs des Kreml uneingeschränkt, sagt sie: "Ich bin also auch hier, um mal wieder zu spüren, dass ich nicht allein bin."


Kotkowas Wunsch nach einem Ende des Hasses geht nicht in Erfüllung. In der Ost-Ukraine meldet sich ein Kämpfer der prorussischen Separatisten zu Wort. Die russischen Medien haben den Mann mit dem Kampfnamen "Motorola" in den vergangenen Monaten zu einem Volkshelden aufgebaut. Während in Moskau noch Zehntausende trauernd durch die Straßen ziehen twittert "Motorola", er mache sich "Sorgen um das große Russland". Das Land müsse "auf der Stelle alle Verräter vernichten".






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