jeudi 26 février 2015

Tunesien: Ein Ort wehrt sich gegen die Salafisten


Melassine ist das Armenviertel von Tunis - und eine Hochburg von Ennahda. Die moderat islamistische Partei gilt den einfachen Leuten in den sozial schwachen Vierteln der Hauptstadt sowie im vernachlässigten Süden Tunesiens als Hoffnungsträger; sie steht für den Widerstand gegen die alte Elite, die seit dem Sieg der Partei Nidaa Tounes bei der Parlamentswahl wieder Auftrieb hat.


"Tarhoot - Herrscher", rufen sich schon die Kids in Melassine zu, wenn sie einen der vergitterten Mannschaftstransporter sehen, die in den Straßen patrouillieren. Es sind oft dieselben Beamten wie vor der "Jasminrevolution". Außer den Polizeiwagen hat der tunesische Staat in dem Viertel nicht viel zu bieten. Fast jeder hier habe schon einmal im Knast gesessen, sagt Kais Zarouki.

Obwohl Melassine lediglich eine halbe Stunde zu Fuß vom Geschäftszentrum, der Medina, entfernt liegt und sich auf den ersten Blick kaum von anderen Stadteilen unterscheidet, trauen sich nur wenige Hauptstädter hierher. "Unter Ben Ali man uns jahrzehntelang als Islamisten gebrandmarkt", sagt Saber Abidi, der auch schon einmal zu einer Fortbildung in Deutschland war. Der im libyschen Tripolis geborene junge Mann ist einer der wenigen Unter-40-Jährigen hier, die an eine bessere Zukunft in Tunesien glauben.


Viele aus Melassine würden ihr Glück lieber in Syrien oder Italien suchen, berichten die Männer, die sich jeden Tag vor dem Café am Markt treffen - und wöchentlich weniger werden. Während man die Überfahrt nach Italien selbst finanzieren und sich dann einen Job suchen muss, beginnt der Kampf in Syrien als All-Inclusive-Paket. Schon das geheime Netzwerk von wechselnden Telefonnummern und klandestinen Wohnungen vermittele vielen das Gefühl, an einem großen Befreiungskampf gegen die Unterdrücker dieser Welt teilzunehmen. "Sie werden auch gut bezahlt", glaubt die Caférunde, die für die Märtyrer dennoch keinerlei Verständnis zeigt. "Das ist gegen die Werte des Islams", sagt Saber.


Nach Angaben des tunesischen Innenministeriums wurden bereits 9.000 junge Tunesier davon abgehalten, für die Dschihad-Gruppen in Syrien und im Irak in den Kampf zu ziehen. Viele gehen direkt aus ihren Kinderzimmern nach Libyen, wo die erste Grundausbildung stattfindet. Ruhm und Ehre sowie ein festes Einkommen im Kampf für Palästina und Syrien versprechen ihnen die salafistischen Imame, die in den Moscheen der Neubauviertel von Tunis das Sagen haben.


Ennasr ist ein solches Viertel. Das mit Krediten aus Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten hochgezogene Neubaugebiet im Nordwesten der Hauptstadt ist bekannt für die zahlreichen von dort stammenden Selbstmordattentäter, deren Taten in den sozialen Netzwerken kursieren - und die, wie es den Eltern versprochen wurde, so zu "Märtyrern" geworden sind.


So etwas gibt es bei uns nicht, sagt Saber kopfschüttelnd. Der Vergleich zwischen dem städtebaulich modernen Ennasr und dem heruntergekommenen Melassine steht symbolisch für viele Kleinstädte und Stadtteile in der arabischen Welt. Was auffällt: Trotz Drogen, Armut und Kriminalität funktionieren die sozialen Netze in Melassine noch.


Ein von Katar finanzierter Imam, der wahhabitische Lehren unters Volk bringt, habe nur in unpersönlichen Stadtteilen wie Ennasr eine Chance, glaubt auch Ahmed Naifar. Der Religionswissenschaftler beobachtet seit Jahren, was für eine explosive Mischung die hohe Arbeitslosigkeit und die in Riad oder Doha ausgebildete Imame für die perspektivlose Jugend ergeben.


Der 65-Jährige fürchtet, die wahhabitische Offensive von der Arabischen Halbinsel könne den traditionell toleranten Islam aus den Moscheen Nordafrikas hinwegfegen.


Aus dem Fenster deutet Naifar auf die verfallene Fassade der Universität. Die Heizung funktioniert nicht, immer wenige Leute wollen hier studieren. Noch in den 1960er Jahren stand die Zitouna für eine moderne Variante des Islams. Über Jahrhunderte war die Moschee gleichen Namens in der Medina von Tunis eines der Glaubenszentren Nordafrikas. Die Zitouna steht für das friedliche Nebeneinander verschiedener Religionen und islamischer Lehrmeinungen in Nordafrika. Bis heute lebt eine kleine jüdische Minderheit in Tunesien.


Naifar wirft Gaddafi, Ben Ali und Mubarak vor, die Moscheen ihres moralischen Werts beraubt zu haben. Imame wurden nach Solidarität mit den Regierenden ausgewählt. Mit der Folge, dass die jungen Leute sich heute lieber den "authentischen" Hinterhofpredigern zuwenden. Die haben für die Probleme des Landes eine zwar strikte, aber kämpferische Form des Islams anzubieten: ein Aufputschmittel für die Schwachen.

"Mittlerweile gerät eine Moschee nach der anderen in die Fänge der Salafisten", sagt Naifar "Und vier Jahre nach dem Sturz Ben Alis ist auch der moderate Islam der Zitouna nur noch eine leere Hülle."


"Wir sind stolz auf die Traditionen Nordafrikas", sagt Saber im bei einem Gang über den Markt von Melassine, wo kaum ein Händler mehr als 150 Euro im Monat verdient. Man hat sich zu einer Kooperative zusammengetan und zahlt nun die Müllabfuhr selbst. Im Büro des wegen Korruption verjagten staatlichen Marktaufsehers läuft der Fernseher. Der Imam eines saudischen Religionskanal preist den Kampf gegen die Diktatur Baschar al-Assads als religiöse Pflicht. Saber blickt erleichtert, als er sieht, dass die Söhne der meisten Händler gerade zum Fußballtraining gegangen sind.






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